Der Zug ist in Italien das neue Flugzeug und hat Inlandflüge unattraktiv gemacht

Das Ende der Fluggesellschaft Alitalia hatte nicht nur mit Missmanagement und der Konkurrenz von Billig-Anbietern zu tun, sondern auch mit Italiens Hochgeschwindigkeitszügen Frecciarossa.

Michele Coviello
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Die Frecciarossa sind Italiens Flugzeuge auf Schienen.

Die Frecciarossa sind Italiens Flugzeuge auf Schienen.

Carlo Buliani

Sie rochen nach Eisen, Schweiss und Urin. Wer früher einen Tag in italienischen Zügen verbrachte, dem blieb dieser Duft noch eine Weile in der Nase. In den 1980er Jahren deutete der Volksmund deshalb das Kürzel FS der Ferrovie dello Stato in «Ferrovie Sporche» um – also schmutzige Eisenbahn.

Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Die FS gibt es noch als Muttergesellschaft. Die Personenzüge haben den trendigeren Namen Trenitalia bekommen – und dank ihrem Hochgeschwindigkeitsangebot Frecciarossa einen diametral anderen Ruf.

Umgekehrt erging es der nationalen Fluggesellschaft Alitalia. Als das Fliegen noch ein Statussymbol war, galt die Airline mit Uniformen von Armani und preisgekrönten Menus als Ausdruck von Italianità. Doch am 15. Oktober 2021 landete die Fluggesellschaft nach 74 Jahren Betrieb vorläufig zum letzten Mal. Die Nachfolgerin ITA hat zwar den alten Namen zurückgekauft. Vorerst wird es die Alitalia aber nicht mehr geben.

Die Gründe für den Niedergang der Fluggesellschaft sind vielschichtig. Managementfehler, Staatseingriffe, gescheiterte Allianzen und das Vordringen der Billigfluggesellschaften haben dazu beigetragen. Eine Rolle spielte aber zumindest im Inlandgeschäft die Konkurrenz auf den Schienen: die 2008 von Trenitalia lancierten Hochgeschwindigkeitszüge, die «Frecce» (Pfeile).

Goldene Route

Um die Jahrtausendwende war das Inlandgeschäft umsatzmässig mit einem Anteil von fast 30% hinter den Europaflügen der zweitwichtigste Bereich, 2001 sogar der wichtigste. Gianni Dragoni bezeichnet die Strecke Mailand–Rom als «goldene Route» der Airline. Laut dem Journalisten des Wirtschaftsblattes «Il Sole 24 Ore» herrschten auf dieser Strecke die teuersten Tarife Europas. Bis zu dreissig Verbindungen gab es zu Spitzenzeiten täglich, sprich 60 Hin- und Rückflüge. Im November 2019, also kurz vor der Pandemie, waren es immer noch 20 pro Tag. Allerdings mit immer weniger Passagieren.

Alitalia fliegt nicht mehr – ein Blick zurück in Bildern

Als Fliegen noch mit Glamour zu tun hatte: Der italienische Filmstar Gina Lollobrigida entsteigt 1954 einer Vickers Viscount der Alitalia am Flughafen von Venedig.
13 Bilder
Im Februar 1951 stürzte eine Alitalia-Maschine auf dem Flug von Paris nach Rom nach einem Blitzeinschlag in der Gegend von Tarquinia ab. 13 Insassen kamen ums Leben.
Eine Flughafenszene aus dem Jahre 1955 mit einer Vickers-Viscount-Turboprop-Maschine der Alitalia im Hintergrund.
Am Londoner Flughafen Heathrow wird eine Alitalia-Mitarbeiterin 1962 gegen Pocken geimpft.
Mit einer Reminiszenz an die antiken Römer wird in den Strassen Londons für Alitalia im Jahre 1969 geworben.
Mit einer in der Passagierkabine für den hohen Gast umgebauten DC-8 der Alitalia flog Papst Paul VI. 1970 nach Australien.
Im März 1972 wurde eine Caravelle der Alitalia auf dem Flug von Rom nach Mailand von einer aus Italien stammenden Frau nach München entführt (mit Pfeil bezeichnet), die damit gegen die Behandlung ihrer Schwester in einer psychiatrischen Klinik protestierte.
Polizei und Feuerwehrleute bei den Arbeiten zur Bergung der Trümmer einer DC-9 der Alitalia, die am Stadlerberg bei einem zu tiefen Anflug auf Zürich Kloten zerschellte. Beim Absturz verloren alle 46 Passagiere und Crewmitglieder ihr Leben (14. November 1990).
Ein Jahr nach dem Absturz der Alitalia-Maschine fand am 14. November 1991 beim Stadlerberg eine Feier zur Einweihung des Gedenksteins mit den Namen der 46 Opfer an der Unglücksstelle statt.
Ägyptens Staatschef Abdelfatah al-Sisi winkt Papst Franziskus zum Abschied im April 2017 zu, bevor dieser nach seinem Ägyptenbesuch in einer Alitalia-Maschine nach Rom zurückfliegt.
Angestellte und Gewerkschafter der Alitalia tragen eine Sarg-Attrappe mit der EU-Flagge aus dem italienischen Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung in Rom. Sie haben dort vergeblich eine weitere finanzielle Unterstützung des Staates für die notleidende Airline verlangt, die seit 2002 jedes Jahr einen Verlust eingeflogen hat. EU-Regeln verbieten direkte staatliche Subventionen für Fluggesellschaften. Damit ist das Ende der Alitalia besiegelt.
Alitalia-Angestellte demonstrieren in Rom auf der Piazza del Popolo zur Feier des 74-jährigen Bestehens der nationalen Fluggesellschaft. Der erste Flug hat die Airline am 5. Mai 1947 auf der Linie Turin–Rom–Catania durchgeführt.
Ein Airbus A320, eines der ersten mit einer Speziallackierung versehenen Flugzeuge der neuen italienischen Fluggesellschaft ITA (Italia Trasporto Aereo), wird am 11. Oktober 2021 den Medien vorgeführt. Die neue Airline wird zunächst mit einer Flotte von 52 Flugzeugen an den Start gehen. 2022 soll ihre Zahl dann auf bis zu 78 Maschinen steigen. Das neue Unternehmen wird aber nur 2800 der bisher 10 000 Alitalia-Angestellten übernehmen.

Als Fliegen noch mit Glamour zu tun hatte: Der italienische Filmstar Gina Lollobrigida entsteigt 1954 einer Vickers Viscount der Alitalia am Flughafen von Venedig.

Archivio Cameraphoto Epoche / Hulton Archive / Getty

Denn wer vom Stadtzentrum Mailands nach Fiumicino fliegt, muss mit mindestens vier Stunden Reisezeit rechnen, ehe er in der Innenstadt Roms ankommt. Anders mit dem Zug: in 2 Stunden und 59 Minuten geschafft. Mit 300 km/h fahren die «Frecce» von Zentrum zu Zentrum. Im Nu sind die 670 km zwischen den wichtigsten Wirtschaftsmetropolen des Landes überwunden. Mit einer Stunde mehr ist man bereits in Neapel. Das alles mit gratis WLAN, Beinfreiheit und je nach gebuchtem Service mit Willkommensdrink und Snacks – ohne Warterei an Check-in und Gate, ohne Transfer zum und vom Flughafen. Das ist nicht nur für Geschäftsreisende von Vorteil. Auch Touristen kommen schneller zum Ziel.

Auch in Frankreich spüren die Fluggesellschaften die Konkurrenz

Stefano Maggi ist Geschichtsprofessor an der Universität Siena und auf Verkehrswirtschaft und Verkehrspolitik spezialisiert. «Die Frecciarossa haben auf der Achse Mailand–Rom schon kurz nach der Aufnahme ihres Dienstes die Flugzeuge überholt», sagt er. Ihr Einfluss auf den Flugbetrieb sei offensichtlich. «Und es ist vollkommen richtig, dass es so ist: Wo es ein derart schnelles Eisenbahnnetz gibt, sollte es gar keine Flüge mehr geben», so Maggi. Der ökologische Aspekt ist ein zusätzliches Plus.

Schon davor hatte der Ausbau der Hochgeschwindigkeit in Frankreich den gleichen Effekt, wie Professor Kay Axhausen von der ETH Zürich sagt: «Der TGV zwischen Paris und Lyon sowie Paris und Marseille hatte massiv an Kundschaft gegenüber den Flügen gewonnen. Es gibt keinen Grund, wieso das in Italien anders hätte sein sollen.»

Schnell wie Pfeile: Die Frecciarossa-Züge von Trenitalia sind ein neues Wahrzeichen Italiens.

Schnell wie Pfeile: Die Frecciarossa-Züge von Trenitalia sind ein neues Wahrzeichen Italiens.

Alessandro Rota / Getty Images

Im Mai 2019 machte Air France den Train à Grande Vitesse für die Einbrüche im Fluggeschäft verantwortlich. In den fünf Jahren davor wurden vier neue Hochgeschwindigkeitszuglinien eröffnet wie etwa Paris–Rennes oder Paris–Bordeaux. Viele Regionen sind nun durch eine bloss zweistündige Zugfahrt mit der Hauptstadt verbunden. In all diesen Gebieten hat Air France laut Franceinfo 90% der Marktanteile verloren. Axhausen fügt an: «Air France ist aber nicht Pleite gegangen. Für Alitalia waren andere Gründe ausschlaggebend.»

Die Liste dieser Gründe ist lang: Die Pandemie tat das Übrige. Davor hatten Gewerkschaften sämtliche Fusionsversuche torpediert, und das Management hatte es nicht geschafft, selbst auf rentablen Märkten wie den interkontinentalen Flügen Gewinne zu erzielen. Und vor allem in Konkurrenz mit den Low-Cost-Anbietern verlor Alitalia die Vormacht.

Wie aus Abflugdaten des Ente Nazionale dell’Aviazione Civile (Enac) hervorgeht, beförderte Ryanair im Jahr 2019 als Nummer 1 auf dem Platz Italien mit 40,5 Mio. Passagieren 18,7 Mio. mehr Reisende als die heimische Airline auf Rang 2. Schaut man den geschrumpften Markt der Inlandflüge an, führte Alitalia mit 11,9 Mio. Reisenden die Rangliste nur knapp vor Ryanair an (11,3 Mio.). Eine Studie der Römer Universität Tor Vergata zeigt auf, wie Alitalia 1997 noch fast 80% Marktanteil an Inlandflügen hatte, 2004 waren es bereits nur noch gegen 40%.

Fast zwei Drittel Kunden in 11 Jahren verloren

Der Kuchen hat sich mit dem Start der Hochgeschwindigkeitszüge im Jahr 2008 noch stärker verkleinert. Vergleicht man die Enac-Daten von damals mit denjenigen von 2019, wird offensichtlich, wie der Flugverkehr zwischen Mailand und Rom eingebrochen ist: Nutzten 2008 noch rund 3 Mio. Reisende zwischen Mailand und Rom das Flugzeug, so waren es 2019 nur noch rund 1,2 Mio. – wovon ein Teil auch auf andere Airlines abfiel. Die meistgebuchten Inland-Routen sind inzwischen die Verbindungen von Mailand und Rom in Richtung der Inseln Sizilien und Sardinien.

Einbruch der goldenen Alitalia-Route

Die Passagiere zwischen Mailand und Rom 2008 und 2019 (in Millionen)

Entgegengesetzt verlief die Entwicklung auf den Schienen. In den Jahren 2018 und 2019 waren auf der Strecke zwischen Rom und Mailand 70 bis 75% aller Passagiere mit dem Zug unterwegs, der Anteil der Flugreisenden sank gemäss «Il Sole 24 Ore» auf 15 bis 20%. Trenitalia vermeldete nach 10 Jahren Hochgeschwindigkeit einen Zuwachs zwischen Mailand und Rom von 1 Mio. Passagiere auf 3,6 Mio. Auf dem gesamten Netz ergab sich eine Steigerung von 517% und von 6,5 auf 40 Mio. Passagiere.

517 Prozent Wachstum in 10 Jahren

Die Frecciarossa-Passagiere in Millionen
Mailand–Rom
Ganzes Netz

Nicht inbegriffen sind dabei die Italo-Züge. Denn Italien hat im Bereich der Hochgeschwindigkeit sogar einen zweiten Player. Die Konkurrenzsituation führte zu einem grösseren Angebot und erschwinglicheren Preisen. Die Frecce fahren nun auch auf Linien, die noch nicht für die Hochgeschwindigkeit ausgebaut sind – etwa bis nach Reggio Calabria oder Lecce.

«Der Ausbau dieser Strecken für die Hochgeschwindigkeit wird hoffentlich auch bald folgen», sagt Maggi von der Universität Siena. Die kosten seien hoch, aber die Bahn modernisiere das Land, so Maggi. Wie Trenitalia in einer Medienmitteilung schreibt, hat der Staat 32 Mrd. € in die Hochgeschwindigkeitsinfrastruktur investiert. Die neuen Linien hätten im Gegenzug mit der besseren Vernetzung des Landes das Bruttoinlandprodukt um 0,15% jährlich gesteigert.

Noch mehr soll folgen. Im «Piano nazionale di ripresa e resilienza» ist die Zukunft der Bahnen gesichert. Der Post-Covid-Aufbauplan Italiens sieht nämlich keine neuen Gelder für Strassen vor, dafür Investitionen für 24,77 Mrd. € in die Schienen – darunter auch 4,64 Mrd. fürs Hochgeschwindigkeitsnetz im Süden oder 8,57 Mrd. für den Ausbau im Norden mit Anbindung an Europa. Die Attraktivität der Frecce wird damit nur noch steigen.

Fussball-Teams chartern ganze Züge

cov. Fortschrittlich zeigt sich auch der Wirtschaftszweig des Calcio, ein sonst guter Kunde der Fluggesellschaften. Inzwischen bewegen sich die wenigsten Fussballklubs Italiens in der Luft oder im Car zu ihren Spielen, auch das Nationalteam reist oft mit den Frecce. «Alle Mannschaften, die ans Hochgeschwindigkeitsnetz angebunden sind, fahren per Zug zu den Partien, selbst Grossklubs wie Inter oder Juventus», sagt Alberto Marangon, Teammanager von Sampdoria. Sein Klub sowie der Lokalrivale Genoa FC sind eher die Ausnahme. Genua ist noch nicht Teil des Freccia-Konzepts.

Ende August sorgte ein Video für Erheiterung auf Social Media: José Mourinho, Trainer der AS Roma, gönnte sich nach dem Sieg in Salerno im Zug entspannt eine Cola und eine Pizza. Aus der kampanischen Hafenstadt kommt man in etwas mehr als zwei Stunden mit dem Frecciarossa nach Rom. Früher hätte Mourinhos Team drei Stunden im Bus gesessen. Heuer reservieren die meisten Klubs einen bis zwei Wagen für sich.

Wie sehr sich Trenitalia dem Service der Airlines angenähert hat, zeigt sich gerade in diesem Segment: Es ist sogar möglich, ganze Frecce zu chartern. Gerade Grossklubs wie Juventus tun dies regelmässig und besonders nach Abendspielen, wenn sonst keine regulären Verbindungen mehr fahren würden.

Der Zeitgewinn für die Spieler ist gross. Der Effekt für die Umwelt mässig. Die Busse mit den Logos der Klubs und Sponsoren müssen trotzdem ihre Sichtbarkeit haben. Sie fahren leer zum Bahnhof des Spielorts, kutschieren die Mannschaften zum Stadion. Und dann wieder zurück.

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